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Lernstile – nur ein Mythos?

Lernstile – nur ein Mythos?
Gibt es Lernstile wirklich?

Vielleicht kennen Sie die Situation: Sie unterhalten sich mit jemandem und erwähnen, dass Sie E-Learning-Entwickler sind. Das Gespräch kommt auf Themen wie didaktische Methoden und Möglichkeiten zur Steigerung des Lernerfolgs, und schon bald erwähnt irgendjemand, dass es ja verschiedene Lernstile gibt, und dass er oder sie ja ein kinästhetischer Lerner sei – also jemand, der durchs Tun lernt – und deshalb nie gute Noten in der Schule hatte.

Leider gibt es da ein Problem: Trotz ihrer ungebrochenen Popularität, gibt es für die Theorie, dass unser bevorzugter Lernstil einen Einfluss darauf hat, wie gut wir etwas lernen, bisher keine wissenschaftlichen Belege. Diverse Studien, z. B. diese aus dem Jahr 2018, haben inzwischen Belege für das genaue Gegenteil hervorgebracht.

In diesem Artikel möchten wir kurz den Forschungsstand zu Lernstilen darstellen, dann die möglichen Probleme mit der Verbreitung dieser Theorie diskutieren, Ihnen Argumente an die Hand geben, mit denen Sie Anhänger der Theorie vom Gegenteil überzeugen können und schließlich Tipps dazu, worauf Sie sich besser konzentrieren sollten als auf angebliche Lernstile.

Was besagt die Theorie der Lernstile?

Tatsächlich gibt es nicht eine Theorie der Lernstile, es gibt jede Menge, und in jedem Modell werden (wenn auch nur leicht) unterschiedliche Stile unterschieden. Ihnen gemein ist aber der Kerngedanke, dass jeder Mensch eine bevorzugte Art zu Lernen hat und – vor allem – dass Menschen bessere Lernergebnisse vorweisen, wenn didaktisch auf ihren Lernstil Rücksicht genommen wird.

Der Forschungsstand

Die Theorie erfreut sich größter Beliebtheit, aber sie ist alles andere als bewiesen. Eine Studie nach der anderen hat zwar gezeigt, dass Menschen bestimmte Lernstile bevorzugen, jedoch keineswegs, dass sich diese Präferenzen im Lernergebnis niederschlagen.

Wieso Sie diesen Mythos nicht verbreiten sollten

Sie fragen sich vielleicht, was schlimm daran sein kann, wenn Menschen weiter an die Wichtigkeit unterschiedlicher Lernstile glauben, aber dieser Glaube kann tatsächlich Schaden anrichten.

Zunächst ist es enorm aufwändig, mehrere Versionen desselben Kurses zu erstellen, die unterschiedlichen Lernstilen entgegenkommen. Und da es keinen Grund zur Annahme gibt, dieser Aufwand werde mit besseren Ergebnissen belohnt, ist es letztlich vergeudete Zeit und damit hinausgeschmissenes Geld.

Aber der Glaube an diese Theorie hat mehr als nur wirtschaftliche Nachteile. Laut diesem Artikel im Fachmagazin Psychology Today kann er sogar ein Hindernis im Lernprozess darstellen. So könnte z. B. jemand, der von sich glaubt, ein visueller Lerntyp zu sein, bei einem Kurs, der hauptsächlich mündlich präsentiert wird, schneller aufgeben. Wer Lernstile hingegen als das betrachtet, was sie sind – Vorlieben, die niemanden daran hindern, auf vielfältige Art und Weise zu lernen – der ist viel eher motiviert, sich Mühe zu geben, egal welches Format der aktuelle Kurs hat.

Und selbst wenn bewiesen werden sollte, dass Lernstile einen großen Unterschied darin machen, wie gut wir etwas lernen, ist es immer noch fraglich, ob es sinnvoll ist, mehrere Versionen desselben Kurses zu erstellen. Sehen Sie es einmal so: Wenn Sie Ihre Didaktik stets darauf ausrichten, was einige Ihrer Lernenden bevorzugen, berauben Sie sie dann nicht um die Möglichkeit, ihre Flexibilität im Lernen zu trainieren? Was, wenn diese Menschen dann doch einmal an einem Kurs teilnehmen, der nicht auf ihre Vorlieben ausgerichtet ist? Oder wenn sie etwas außerhalb des klassischen Unterrichtskontexts lernen müssen?

Was Sie stattdessen lieber tun sollten

Hören Sie auf den Neurowissenschaftler Christian Jarrett und den Kognitionspsychologen Daniel Willingham: Kümmern Sie sich weniger um Lernvorlieben Ihrer Kursteilnehmer und konzentrieren Sie sich stattdessen darauf, die Präsentation des Kurses auf den Inhalt und den Lernkontext auszurichten. Wenn Sie das tun, werden alle Teilnehmer den Stoff besser lernen, egal wo ihre Vorlieben liegen.

Das leuchtet ein, denn schließlich bieten sich für Themen wie Anatomie visuelle Methoden deutlich besser an als für Sprachen, bei denen eine auditive Vermittlung sinnvoller ist. Was die Art der Kursgestaltung bestimmen sollte, ist also der Inhalt und nicht irgendeine Vermutung darüber, welche Vorlieben die Lernenden haben.

Fazit

Als Instruktionsdesigner sollten Sie der Lernstiltheorie bei der Erstellung von E-Learning-Kursen keine Beachtung schenken. Bestenfalls handelt es sich dabei um eine interessante Hypothese. Schlimmstenfalls um einen Irrglauben, der Sie nicht nur Zeit und Geld kostet, sondern Lernende davon abhalten kann, sich ins Zeug zu legen und sich den Lernerfolg zu erarbeiten.

Jeder Mensch profitiert davon, auf unterschiedliche Art und Weise zu lernen. Lassen Sie sich vom Inhalt des Kurses leiten, nicht von angenommenen Vorlieben einzelner Lernender.

Sie möchten gern mehr über die wissenschaftliche Forschung zum Instruktionsdesign lernen? Dann ist diese Artikelserie das Richtige für Sie: Evidenzbasierte Empfehlungen für die E-Learning-Entwicklung.

 

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