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Entscheidungen in verzweigten Szenarien wie Videospiel-Entwickler angehen

Entscheidungen in verzweigten Szenarien wie Videospiel-Entwickler angehen

Haben Sie schon mal an einem E-Learning-Kurs mit einem verzweigten Szenario teilgenommen, das zwar technisch funktioniert hat, aber weder interessant noch realistisch war? Wenn ja, haben Sie am eigenen Leib erfahren, dass die technische Umsetzung eines verzweigten Szenarios nur die halbe Miete ist. Wenn der Kurs wirklich etwas bewirken soll, müssen die Situationen, Dialoge und Entscheidungen sowohl realistisch als auch nicht-trivial sein.

Das ist natürlich leichter gesagt als getan, denn die richtigen Ideen muss man erst mal haben. Zum Glück gibt es da noch eine Inspirationsquelle, die Sie vielleicht bisher noch nicht auf dem Schirm hatten: Videospiele. Entwickler von Online-Rollenspielen und ähnlichen Genres beschäftigen sich seit Jahrzehnten damit, spannende Entscheidungen und realistische Dialoge in ihre Spiele einzubauen. In diesem Artikel wollen wir sehen, was wir uns für den E-Learning-Bereich bei ihnen abschauen können.

Frühe Entscheidungen sollten unkritisch sein

Wissen Sie, was wirklich frustrierend ist? Zu merken, dass man aus Versehen die falsche Wahl getroffen hat, weil man bei der Bedienung der Benutzeroberfläche etwas falsch verstanden hatte. Deshalb bringen einem viele Videospiele Stück für Stück die Steuerung bei, und zwar in einer Umgebung, in der man noch nichts Gravierendes falsch machen kann. Die Anfangsfragen können also als eine Art Tutorial gesehen werden, in dem die Teilnehmenden ohne Risiko auch mal Fehler machen dürfen.

In einem E-Learning-Kurs haben Sie natürlich nicht so viel Zeit für ein Tutorial wie in einem MMORPG, aber für ein oder zwei einfache, risikofreie Fragen zu Beginn sollte Raum sein.

Nicht jede Option muss zu einem eigenen Zweig führen

Wenn Sie mal durchrechnen, wie viele Zweige Sie in einem komplexen Szenario bräuchten, wenn jede Option jeder Entscheidung einen eigenen Zweig aufmachen würde, stoßen Sie schnell an die Grenze des Realistischen. An Videospielen sehen wir aber, dass es möglich ist, realistische Szenarien zu bauen, ohne dass jede Entscheidung tatsächlich etwas am eingeschlagenen Pfad ändern muss.

Eine Videospielreihe, die ganz offen mit dieser Tatsache umgeht, ist The Walking Dead. Wenn man in einem dieser Spiele in einem Dialog eine Entscheidung präsentiert bekommt, die sich auf die Entwicklung der Geschichte auswirkt, wird eine kleine Nachricht angezeigt, dass sich der Gesprächspartner die Entscheidung merken wird. Wenn diese Nachricht nicht angezeigt wird, weiß man also, dass diese Entscheidung keinen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte hat. Das zu wissen, macht diese Dialoge aber nicht weniger interessant oder unterhaltsam. Im echten Leben hat auch nicht jede kleine Entscheidung eine Auswirkung auf das weitere Leben.

Ein paar Ideen, wie Sie bei der Planung Ihres Szenarios Zeit sparen können:

  • Da nicht alle Entscheidungsmöglichkeiten zwangsläufig neue Zweige aufmachen, halten Sie die Augen offen nach Situationen, in denen Sie den Szenarioverlauf vereinfachen können. Manchmal führen alle Optionen ganz logisch zum selben nächsten Bildschirm, zum Beispiel bei schlichten Einführungs- und Übungsfragen oder solchen, die hauptsächlich zum thematischen Kontext beitragen.
  • Versuchen Sie Momente zu finden, in denen verschiedene Antworten zum selben nächsten Bildschirm führen können. In einfachen Situationen zum Beispiel, in denen eine Antwort entweder richtig oder falsch ist, brauchen Sie nur zwei weitere Zweige, egal wie viele Antwortmöglichkeiten Sie anbieten.
  • Nur weil an einer Stelle verschiedene Zweige entstanden sind, bedeutet das nicht, dass sich diese Zweige nicht später wieder treffen können. Wenn es inhaltlich Sinn ergibt, können Sie auch mehrere Zweige wieder zusammenführen.

Es darf auch mal jede Option gut oder jede schlecht sein

Viele Entscheidungen in E-Learning-Szenarien folgen demselben Schema: Eine Option ist gut, eine ist noch in Ordnung, aber die dritte sollte definitiv nicht gewählt werden. An sich ist daran nichts schlecht, aber in vielen Situationen ist diese klare Dreiteilung nicht realistisch. Im wirklichen Leben gibt es Situationen, in denen keine der möglichen Optionen gut ist. Das „Spiel“ Spent ist ein perfektes Beispiel, wie dieser Gedanke in einem Szenario umgesetzt werden kann. Das Spiel wurde entwickelt, um Menschen vor Augen zu führen, wie es sich anfühlt, nicht genug Geld zu haben; im Spiel wird man vor eine unangenehme Entscheidung nach der anderen gestellt, und versucht schon bald einfach nur die zu wählen, die am wenigsten wehtut. Gute Optionen gibt es in dem Spiel nicht, weil es in den dargestellten Situationen in der Wirklichkeit auch keine gibt.

Wenn es in Ihrem Szenario also eine Situation gibt, in der es einfach keine positiven Optionen gibt, ist es in Ordnung, wenn Sie nur negative anbieten. Die Herausforderung besteht dann darin, das kleinste Übel zu wählen. Zum Beispiel in einem Szenario für den Umgang mit verärgerten Kunden. Wenn Teilnehmende zu oft für ungute Optionen entscheiden, ist es nur logisch, dass es irgendwann keine Möglichkeit mehr gibt, dass alles wieder gut wird. Dann geht es nur noch darum Schadensbegrenzung zu betreiben.

Das gleiche gilt auch umgekehrt – manchmal ist es durchaus angebracht, mehrere positive Optionen zur Wahl zu stellen. Im obigen Beispiel kann es durchaus verschiedene Möglichkeiten geben, einem unzufriedenen Kunden zu helfen. Hier mehrere gute Optionen zur Auswahl zu haben, ermöglicht den Teilnehmenden, den Ansatz zu finden, der am besten zu ihnen passt.

Kombinationen vergangener Entscheidungen können zusätzliche Optionen freischalten

Kennen Sie noch die Abenteuerspielbücher, in denen man selbst entscheiden konnte, an welcher Stelle man weiterliest? Sie sind im Grunde ein einziges riesiges Branching-Szenario. Doch in diesen Geschichten ist jede Entscheidung von den anderen isoliert. Das ist der Grund, weshalb der Beginn des digitalen Zeitalters für diese Art des Geschichten-Erzählens so einen Quantensprung bedeutet hat – jetzt kann sich die Geschichte „merken“, wo man sich wie entschieden hat. Aus dieser schlichten Tatsache ergeben sich unzählige neue Möglichkeiten, die Zweige des Szenarios und/oder die Dialogoptionen an eine oder mehrere vergangene Entscheidungen anzupassen.

Visual Novels wie One Night, Hot Springs zeigen eindrücklich, wie viel das zur Tiefe der Erzählung beitragen kann. Wie im echten Leben beeinflusst das, was man tut und sagt, wie andere Charaktere auf einen reagieren – und zwar für den Rest der Geschichte. Neue Dialogoptionen eröffnen sich auf der Grundlage bisheriger Entscheidungen. Und manche Zweige der Geschichte können nur mit einer ganz bestimmten Kombination aus Entscheidungen freigeschaltet werden.

So komplex muss es nicht immer hergehen, aber für Szenarien, in denen es auf Dialog und Beziehungen ankommt, ist es eine gute Idee, in diese Richtung zu denken. Beispiele für diese Szenarien sind Kurse zu sogenannten „Softskills“, schwierige Gesprächssituationen, Personalgespräche und Ähnliches, aber auch Escape-Room-artige Szenarien, in denen die Teilnehmenden in einer bestimmten Reihenfolge Gegenstände finden und Rätsel lösen müssen.

Zeitbegrenzung nutzen, um Stress zu simulieren

Kaum etwas erzeugt so viel Stress wie eine tickende Uhr. Deshalb eignet sich eine Zeitbegrenzung gut, um Szenarien realistischer zu gestalten und die Teilnehmenden zu motivieren, schnelle Entscheidungen zu treffen.

Videospiele setzen Zeitdruck auf ganz verschiedene Weise ein, um das Verhalten der Spielenden zu beeinflussen – von der Zeitanzeige in Super Mario Bros., die einen motiviert, möglichst schnell durch das Level zu rennen, bis hin zum Countdown in Keep Talking and Nobody Explodes, der einen nervös macht, so dass man eher Fehler macht. Beide Arten von Zeitdruck machen das Spiel schwieriger, aber im Falle von Keep Talking macht es das Spiel auch realistischer.

Zeitdruck kann ein starker Motivator sein, er kann aber auch nach hinten losgehen, wenn man nicht aufpasst. Hier sind ein paar Punkte, die Sie im Hinterkopf behalten sollten, wenn Sie in Ihren E-Learning-Szenarien mit Zeitdruck arbeiten möchten:

  • Zeitdruck optional machen. Aufgaben mit festem Zeitlimit können unter dem Gesichtspunkt der Barrierefreiheit ein Problem darstellen. Wenn der Zeitdruck also keine gesetzliche Vorgabe ist, sollten Sie eine Möglichkeit einbauen, die Aufgabe ohne Zeitdruck zu erledigen.
  • Zeitdruck sollte einen didaktischen Zweck haben. Heben Sie sich die Methode Zeitdruck für Situationen auf, in denen sie zum Erreichen der Lernziele beiträgt. Weniger ist oft mehr.
  • Übertreiben Sie es nicht. Wenn Sie schon Timer einsetzen, achten Sie darauf, dass sie realistisch und erreichbar bleiben. Wenn es zu schwer ist, die Aufgabe in der vorgegebenen Zeit zu erledigen, werden sich Lernende eher frustriert als motiviert fühlen.

Es sollte unkompliziert und attraktiv sein, es ein zweites Mal zu versuchen

Was verzweigte Szenarien didaktisch so wertvoll macht, ist nicht zuletzt auch die Möglichkeit, es noch mal zu versuchen, um zu sehen, was herausgekommen wäre, wenn man sich hier oder da anders entschieden hätte. Als hätte man eine Zeitmaschine. Das macht nicht nur Spaß und befriedigt die Neugier, sondern lässt Teilnehmende auch aus Fehlern lernen.

Einige moderne Videospiele nutzen diesen Ansatz der verschiedenen Pfade und des Neuversuchens, leider nicht alle erfolgreich. Die, bei denen es Spaß macht, haben zwei Dinge gemeinsam: Es ist einfach, es noch mal zu versuchen, und die Zweige sind unterschiedlich genug, dass sich ein zweiter Durchlauf nicht langweilig anfühlt.

Overboard, ein Krimi, in dem man selbst den Mörder spielt, der versucht, seine Spuren zu verwischen, ist ein (thematisch vielleicht kontroverses, aber strukturell) gutes Beispiel hierfür. Man kann einzelne Szenen überspringen, was es noch einfacher macht, Passagen ein zweites Mal zu durchlaufen. Das Spiel markiert außerdem, welche Optionen man an einer Stelle schon gewählt hat und welche nicht. Und am Ende bekommt man sogar noch Tipps, was man beim nächsten Mal versuchen könnte. Und weil die Geschichte so viele verschiedene Richtungen einschlagen kann, ist es nicht nur einfach, es wieder und wieder zu spielen – es macht auch Spaß!

In E-Learning-Szenarios können Sie diesen Ansatz nachahmen, indem Sie die Unterschiede zwischen den Ergebnissen der verschiedenen Pfade deutlich erlebbar machen. Hier hilft auch eine offene Navigationsstruktur, damit man sich nicht mühsam wieder und wieder durch dieselben Sequenzen klicken muss. Schon gewählte Optionen zu markieren und am Ende Tipps für den Neuversuch zu geben, macht es den Teilnehmenden leichter, beim nächsten Mal neue Wege einzuschlagen. Und vergessen Sie nicht die Schaltfläche „Noch mal“ auf der Abschlussfolie!

Fazit

Es dürfte klar geworden sein, dass zu einem guten Branching-Szenario mehr gehört, als nur dafür zu sorgen, dass die Lernenden an den richtigen Stellen zu den richtigen Folien weitergeleitet werden. Es geht vielmehr darum, die Entscheidungen in der simulierten Situation so realistisch wie möglich darzustellen und die Teilnehmenden zum Denken und Lernen anzuregen.

Wenn wir uns Gedanken um die Mittel machen, die wir zur Motivation einsetzen, wenn wir frustrierende Elemente weitestgehend vermeiden und wenn wir die dargestellte Situation so realistisch und interessant wie möglich gestalten, entstehen Szenarien, die das volle Potenzial des Formats ausschöpfen.

Sie würden gerne mehr darüber lesen, wie Sie Szenarien ansprechend gestalten und technisch umsetzen können? Dann haben wir die richtigen Artikel für Sie:

 

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