Sie sitzen mit einem Kunden zusammen, um einen neuen E-Learning-Kurs über ein recht trockenes Thema zu besprechen. Natürlich haben Sie Fragen, Ideen und Anregungen, aber Sie merken bald, dass der Kunde eigentlich nur will, dass Sie die 200-seitige PowerPoint-Präsentation ins LMS rüberschaufeln. Kein Gedanke daran, den Stoff zu straffen, ihn auf das Lernziel abzustimmen oder das Material spannender und interessanter zu gestalten.
Sie würden gerne Ihre Einwände anbringen, denn Sie wissen, dass dieser Ansatz zum Scheitern verurteilt ist. Kein Lernender wird sich vier Stunden lang durch langweilige Folien klicken, geschweige denn dadurch etwas lernen. Um sich mehr Kontrolle und kreativen Freiraum zu verschaffen, könnten Sie an dieser Stelle die ehrgeizige Behauptung einstreuen, dass die menschliche Aufmerksamkeitsspanne in den letzten Jahren drastisch gesunken ist: von 12 Sekunden im Jahr 2000 auf gerade mal 8 Sekunden. Das ist weniger als die eines Goldfischs!
Was?! Jetzt haben Sie auf jeden Fall die Aufmerksamkeit des Kunden.
Wir sind vielleicht keine Experten, wenn es um Gehirnforschung oder Aufmerksamkeitsspannen geht, aber die Behauptung erschien uns schon immer ein bisschen weit hergeholt. Schon ein paar Minuten Internet-Recherche ergeben, dass das Phänomen der menschlichen Aufmerksamkeit immer noch nicht vollständig erforscht ist – die der Goldfische auch nicht. Die oft wiederholte Behauptung, dass wir Menschen eine Aufmerksamkeitsspanne von nur 8 Sekunden haben, kann also wissenschaftlich nicht belegt werden. Es ist eine Legende, wenn auch eine, auf die sich Didaktiker seit Jahren berufen, meist mit der ehrenwerten Absicht, langweilige E-Learning-Kurse aufzupeppen.
Mit so einer steilen These – die einen komplexen Sachverhalt doch etwas zu sehr vereinfacht, um wirklich glaubhaft sein zu können – riskieren Sie und Ihr Team natürlich, dass auch Ihre Glaubwürdigkeit beim Kunden sinkt, denn Ihr Gegenüber kommt sicher bald darauf, dass 1) er oder sie ja heute Morgen zur Arbeit gefahren ist, also eine längere Aufmerksamkeitsspanne als acht Sekunden haben muss, und 2) nur weil ein Kurs kürzer ist, das noch lange nicht heißt, dass die Lernenden ihm mehr Aufmerksamkeit schenken oder durch ihn mehr lernen.
Zwei Fragen bleiben also: Was können Sie Ihren Stakeholdern sagen? Und welche glaubwürdigen, wissenschaftlich fundierten Methoden gibt es, die Lernenden dazu zu bewegen, einem Kurs aufmerksamer zu folgen und möglichst viel zu lernen?
Auf der Suche nach Antworten hierzu haben wir uns mit Julie Dirksen, ihres Zeichens Gründerin des Unternehmens Usable Learning und Autorin des Design-Ratgebers Design for How People Learn, unterhalten. In diesem Artikel haben wir das Gespräch für Sie zusammengefasst.
Zum Begriff Aufmerksamkeitsspanne
Articulate: Informationen, denen wir keine Aufmerksamkeit geschenkt haben, können wir natürlich nicht verarbeiten geschweige denn uns an sie erinnern. Für das Lernen scheint die Aufmerksamkeit also sehr wichtig zu sein. Können Sie uns das etwas näher erläutern?
Julie Dirksen: Aufmerksamkeit ist ein zentraler Faktor für viele Formen des Lernens – aber nicht für alle. Wenn man Gitarre lernt, zum Beispiel, muss man sich zunächst konzentrieren, um die Grundlagen zu lernen, beim späteren Üben von Tonleitern aber kann man die Aufmerksamkeit durchaus schweifen lassen und trotzdem das Muskelgedächtnis trainieren. Wir sind also auch in der Lage, durch Wiederholung zu lernen und unsere Handlungen zu automatisieren. Am Anfang ist Aufmerksamkeit nötig – später nicht mehr so sehr.
Articulate: Wenn es also verschiedene Formen des Lernens gibt, gibt es dann auch unterschiedliche Abstufungen der Aufmerksamkeit?
Julie Dirksen: Patti Shank hat ein paar echt gute Artikel zum Thema Aufmerksamkeit geschrieben. Laut ihr gibt es fünf verschiedene Arten von Aufmerksamkeitsspannen. Jede davon erfordert unterschiedlich viel mentalen Aufwand. Fokussierte Aufmerksamkeit ist unwillkürlich – z. B. die Reaktion auf ein lautes Geräusch oder auf eine Berührung – sie erfordert also gar keinen Aufwand. Je mehr Willenskraft jedoch für die Aufmerksamkeit erforderlich ist und je mehr Dingen gleichzeitig Aufmerksamkeit geschenkt werden soll (geteilte Aufmerksamkeit), desto anstrengender wird die Sache.
Zum Begriff Unmittelbarkeit
Articulate: Wir wissen, dass es viele Wege gibt, die Aufmerksamkeit von Menschen zu erlangen. Welche funktionieren am besten?
Julie Dirksen: Eine der stärksten Methoden, die Aufmerksamkeit anderer zu erlangen, ist es, ein Gefühl von Unmittelbarkeit zu schaffen. Wenn ich Sie jetzt z. B. frage, wie groß Ihr Interesse ist, sich ein fünfminütiges Video über Druckerreparatur anzusehen, werden Sie wahrscheinlich „gegen Null“ antworten. Wenn ich Ihnen aber dieselbe Frage an einem Freitag um 17 Uhr stelle, wenn Ihr Drucker kaputt ist, Sie aber unbedingt vor dem Feierabend noch etwas drucken müssen, wird Ihr Interesse, sich das Video anzusehen, rapide steigen. Das liegt daran, dass es für Ihre aktuelle Situation unmittelbar relevant ist und ein Element der Dringlichkeit vorhanden ist. Man sieht sich das Video nicht an, weil es toll produziert ist, sondern weil es unmittelbaren praktischen Nutzen hat.
Articulate: Aber wie kann ich dieses Gefühl der Unmittelbarkeit in einem klassischen E-Learning-Kurs herstellen?
Julie Dirksen: Eine Möglichkeit ist, den Lernenden ein Szenario zu geben, für das sie eine Lösung finden müssen und zu dessen Lösung sie die Informationen aus dem Kurs brauchen. Dadurch wird ein unmittelbarer Bedarf für die Informationen geschaffen.
Zu den Begriffen Interesse und Interaktion
Articulate: Ok, eine Aufgabe lösen zu müssen, kann also dazu führen, dass die Informationen als unmittelbar relevant wahrgenommen werden. Wir haben oben aber noch einen anderen Punkt gestreift: Interesse.
Julie Dirksen: Ja, es klingt vielleicht lächerlich offensichtlich, aber es ist deutlich einfacher, einer Sache Aufmerksamkeit zu schenken, wenn sie interessant ist. Wenn man sich wirklich für etwas interessiert, ist die Aufmerksamkeitskapazität dafür fast unbegrenzt.
Articulate: Und was, wenn der Stoff meines Kurses einfach langweilig ist?
Julie Dirksen: Man kann sich zwingen, Dingen Aufmerksamkeit zu schenken, die einen nicht interessieren. Aber nicht umsonst heißt es „Aufmerksamkeit schenken“ – es ist ein Geschenk, das im einen Fall bereitwillig gegeben wird, im anderen Fall nur widerwillig. Die Frage ist nicht, wie viel Aufmerksamkeit wir einer Sache schenken „können“ (fast unbegrenzt viel), sondern wie lange jemand bereit ist, sich zu zwingen, einer Sache Aufmerksamkeit zu schenken, die ihn nicht interessiert. Das sind höchstens zwanzig Minuten, in manchen Fällen auch nur eine Minute oder sogar noch weniger.
Wenn es in Ihrem Kurs die ganze Zeit nur um Informationsvermittlung geht – Kriterien, Vorschriften, Fakten, Methoden – statt um praxisbezogene Übungen, in denen die Lernenden selbstbestimmt handeln und entscheiden können, sinkt der Interessantheitsgrad drastisch. Wenn die Lernenden mit dem Stoff interagieren können, fällt es Ihnen viel leichter, aufmerksam zu bleiben.
Zum Begriff der Wichtigkeit
Articulate: Beim Thema mangelnde Interaktion fallen mir sofort Compliance-Schulungen ein, die oft hypothetische Szenarien behandeln, die zwar eine große Gefahr für das Unternehmen darstellen, aber nur sehr selten eintreten. Solche Kurse sind aus vielen Gründen sehr wichtig, aber das oben erwähnte Gefühl der Unmittelbarkeit und das Interesse fehlen völlig.
Julie Dirksen: Viele von uns sind es gewohnt von unseren Vorgesetzten gesagt zu bekommen, dass alles, woran wir arbeiten, wichtig ist. Dieser Kurs ist essentiell für unser Projekt. Diese Informationen sind von grundlegender Bedeutung für das Unternehmen. Wenn das durchgehend aufrechterhalten wird, stumpft man bald ab und hält gar nichts mehr für wichtig.
Überlege wir uns, wie Wichtigkeit signalisiert werden kann. Eine Möglichkeit ist durch Bestätigung aus dem Umfeld: Wenn Andere mit den Informationen, die sie von mir haben, ihre beruflichen Aufgaben besser bewältigen können, sehen sie, wie wichtig die Informationen waren. Wenn sie jedoch Folien mit langen Textblöcken ohne jegliches Design vor sich haben, signalisiert das, dass die Informationen nicht so wichtig bzw. nützlich sein können. Ihre Lernenden wissen instinktiv, dass, wenn es wirklich um etwas Wichtiges ginge, Sie sich mehr Mühe gegeben hätten, den Kurs ansprechend, interaktiv und praxisrelevant zu gestalten.
Wenn etwas an sich nützlich oder interessant ist, muss sich kaum jemand überwinden, die nötige Aufmerksamkeit aufzubringen.
Fazit
Eine von Julie Dirksens Lieblingsthesen ist: „Eine der obersten Pflichten im Instruktionsdesign ist die schonungslose Steuerung der kognitiven Last.“
Ihre Lernenden dazu zu bewegen, Ihrem Kurs Aufmerksamkeit zu schenken, erfordert schon einiges an schonungsloser Steuerung. Der Stoff, den Sie vermitteln möchten, und die Art, in der Sie ihn vermitteln, muss nicht nur die verfügbare Zeit und Aufmerksamkeit der Lernenden berücksichtigen, die Inhalte müssen auch so relevant und ansprechend sein, dass ihre Wichtigkeit unmittelbar deutlich wird.
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