Der Auftrag, aus einer bestehenden Präsenzschulung einen E-Learning-Kurs zu machen, fühlt sich oft an, als erbe man ein altes Haus auf einem traumhaften Grundstück. Es steckt viel Potenzial drin, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit auch eine ganze Menge Arbeit.
Wie beim Erbe des Hauses gibt es auch in der E-Learning-Welt zwei grundsätzliche Herangehensweisen: renovieren oder abreißen und neu bauen. Für beide Ansätze gibt es Argumente und Gegenargumente:
- Renovieren kann Zeit und Geld sparen, aber es besteht immer das Risiko, dass Sie nach der Hälfte des Projekts feststellen, dass Sie doch viel mehr Arbeit reinstecken müssen als angenommen.
- Neu bauen hat den Reiz, dass Sie genau das erschaffen können, was Sie sich vorstellen. Aber unter Umständen bedeutet es, dass Sie gute Substanz über Bord werfen und am Ende vieles neu erstellen, was vorher schon da war.
Auf den ersten Blick zu erkennen, welcher Ansatz sinnvoller ist, ist sehr schwer. Aber keine Sorge, betrachten Sie diesen Artikel quasi als Gutachter, der Ihnen die Schmerzpunkte aufzeigt und eine Empfehlung ausspricht. Sie werden feststellen, dass Sie mit nur zwei Fragen direkt am Anfang schon einen Riesenschritt in Richtung der richtigen Entscheidung machen können. Und die aufgeführten Kriterien zeigen Ihnen genau, worauf Sie im Detail achten sollten, um den effizienteren Ansatz auszuloten.
Erste Grundsatzfrage: Ist der Stoff überhaupt geeignet für einen E-Learning-Kurs?
Bevor Sie zu viel Zeit auf die Frage verwenden, wie Sie eine Präsenzschulung in einen E-Learning-Kurs konvertieren können, sollten Sie sich fragen: sollten Sie es überhaupt? E-Learning ist unglaublich flexibel und eignet sich deshalb für viele Themen, Zielgruppen und Situationen. Aber es gibt kein didaktisches Format, das immer und überall passt. Manchmal ist es einfach klar, dass mit E-Learning allein das Lernziel nicht erreicht werden kann. Wenn Sie in dieser Frage unsicher sind, lesen Sie am besten unseren Artikel Ist E-Learning die passende Lösung?.
Zweite Grundsatzfrage: Ist die Schulung so, wie sie ist, effektiv?
Bevor Sie loslegen, gilt es noch eine zweite Frage zu klären: Ist der bestehende Kurs es überhaupt wert, konvertiert zu werden? Wenn die Präsenzschulung die Lernziele schon nicht erfüllt hat oder von der Mehrheit der Teilnehmer als unangenehm empfunden wird, ist das, als stellten Sie nach dem Erbe des Hauses aus unserem obigen Beispiel fest, dass das Fundament Risse hat. Egal, wie clever und elegant Sie die Schulung konvertieren, der resultierende E-Learning-Kurs hat wahrscheinlich dieselben Probleme, unter denen auch schon die Präsenzschulung litt.
Versuchen Sie also zuerst herauszufinden, ob die Präsenzschulung bei den Teilnehmern gut angekommen ist und ob sie (didaktisch und wirtschaftlich) erfolgreich war. Wenn Sie feststellen, dass mindestens eines davon nicht der Fall ist, dann wissen Sie schon, dass sich das Renovieren kaum lohnt und Sie besser einen komplett neuen E-Learning-Kurs erstellen.
Aber was, wenn die bisherige Schulung beliebt und erfolgreich war? Sollten Sie dann auf jeden Fall renovieren? Nicht unbedingt, aber anhand der folgenden Kriterien finden Sie es heraus:
Wann sich das Renovieren lohnt
Eine Präsenzschulung lässt sicher immer dann gut in einen E-Learning-Kurs konvertieren, wenn sich die zentralen Erkenntnisse und Aktivitäten gut digital reproduzieren lassen. Wenn die meisten der folgenden Kriterien zutreffen, stehen die Chancen gut, dass die Renovierung der bessere Weg ist.
Kriterium | Warum spricht es für eine Renovierung? |
Der Kurs hat nur wenige Gruppenaktivitäten oder Diskussionselemente. | Gruppenaktivitäten und Diskussionen funktionieren im E-Learning nicht so gut – das wird niemanden überraschen. Für solche Elemente müssen dann äquivalente Alternativen gefunden werden. Gibt es wenige solcher Elemente, bedeutet das weniger Arbeit. |
Sie sehen schnell, wie Sie die Aktivitäten, Diskussionen und Inhalte der Präsenzschulung ins digitale Format bringen, ohne große Abstriche bei der Lernerfahrung machen zu müssen. | Wenn Ihnen sofort unkomplizierte Möglichkeiten zur Konvertierung in den Sinn kommen, spricht das dafür, dass die Renovierung zügig und geschmeidig vonstattengehen wird. |
Praktische Übungen oder Demonstrationen können leicht in Form von Text, Bildern oder Videos reproduziert werden. | Diese drei Medienarten sind relativ schnell und einfach erstellbar. |
Die Schulungsleiter melden Ihnen, dass Sie nach der Schulung immer wieder dieselben Fragen gestellt bekommen. | Um häufige Fragen zu beantworten, brauchen Sie keine Live-Fragerunde. Bauen Sie die Antworten lieber direkt in den E-Learning-Kurs ein, oder hängen Sie ein FAQ-Dokument an. |
Die Schulungsinhalte sind vollständig in den Präsentationsfolien, Unterlagen und Vortragsnotizen enthalten. | Sie müssen nur wenig Recherche- oder Redaktionsarbeit in die Inhalte stecken, weil alles schon da ist. |
Wenn viele oder vielleicht sogar alle dieser Kriterien erfüllt sind, haben Sie immer noch Arbeit vor sich – den Kurs müssen Sie immer noch erstellen, aber die Lernziele, Struktur und Inhalte des Kurses können Sie im Großen und Ganzen übernehmen.
Praktische Tipps zur Konvertierung von Präsenzschulungen in E-Learning-Kurse haben wir in den folgenden Artikeln für Sie zusammengetragen:
- 3 Tipps zur Konvertierung von Präsenzschulungen in E-Learning-Kurse
- Aus Präsenzschulungen E-Learning-Kurse machen: mit Rise 360
Wann Sie neu bauen sollten
Einen E-Learning-Kurs von Grund auf neu zu erstellen, mag nach viel Arbeit klingen, nicht selten geht es aber tatsächlich schneller, als eine vorhandene Präsenzschulung umzubauen. Wenn die Lernerfahrung der Präsenzschulung zum großen Teil auf Elemente baut, die digital nur schwer nachzubilden sind, kann der Aufwand schnell explodieren. Um sich diesen GAU zu ersparen, sollten Sie die folgenden Kriterien im Auge behalten.
Kriterium | Warum spricht es für einen Neubau? |
Sie haben tolle Ideen, wie Sie den Kurs effizienter gestalten können – aber dafür wären erhebliche Änderungen am Material oder an der Struktur nötig. | Keine große Überraschung. Wenn erhebliche Änderungen nötig sind, sind Sie in der Regel mit einem Neubau besser beraten. |
Gruppenaktivitäten oder Diskussionen machen einen Großteil der Schulung aus, und es gibt keine auf der Hand liegenden digitalen Äquivalente. | Viele Gruppenaktivitäten können nicht mal eben in digitale Solo-Erlebnisse verwandelt werden, ohne dabei Essenzielles einzubüßen. Können Sie E-Learning einsetzen, um die Kursteilnehmer zur selben Erkenntnis zu leiten, zu der sie durch eine Gruppenaktivität gelangt wären? Sicher. Aber die Kursstruktur wird sich drastisch ändern. Und das bedeutet Arbeit. |
Die Schulung beinhaltet praktische Übungen, die im E-Learning-Kontext nur durch komplexe Video-Tutorials, Animationen und/oder Simulationen reproduziert werden können. | Solche Inhalte können als E-Learning-Kurs funktionieren, aber erfordern ein derart hohes Maß an Detailarbeit, dass Sie meist besser beraten sind, den Kurs komplett neu aufzusetzen. |
Die Schulungsleiter teilen Ihnen mit, dass sie nach jeder Schulung sehr viele Fragen gestellt bekommen. | Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass der Kurs besser auf die Bedürfnisse der Teilnehmer zugeschnitten werden muss. Hier gilt es, herauszufinden, welche Fragen am häufigsten auftauchen, welche Antworten den Teilnehmern geholfen haben und wie Sie diese zusätzlichen Informationen in den Kurs einbetten können – sinnvolle und wichtige Arbeit, aber eben auch viel Arbeit. |
Die Schulungsleiter bereichern den Kurs oft durch spontane Anekdoten und Tipps, die weder in den Präsentationsfolien noch in den Unterlagen für die Teilnehmer auftauchen. | Sie können diese wertvollen Informationen in Text- oder Videoform einbauen – vielleicht sogar in interaktive Szenarien oder dergleichen einflechten. Aber all das zu transferieren und umzumodeln ist extrem aufwendig und grenzt schon fast an einen kompletten Neubau. |
Der Hauptteil des Lerneffekts wird durch vom Schulungsleiter geführte Diskussion erreicht. | Hier wird es knifflig. Unter Umständen könnte die Art und Weise, wie der Schulungsleiter die Diskussionen führt, in verzweigten Szenarien oder ähnlichen E-Learning-Interaktionen eingefangen werden. Aber das flüssig und effektiv rüberzubringen, erfordert eine Menge Feinarbeit.
Oder Sie haben es mit einem Fall zu tun, in dem ein E-Learning-Kurs einfach nicht sinnvoll ist. |
Wenn aus dieser Liste mehr als ein oder zwei Punkte zutreffen, sind Sie höchstwahrscheinlich besser beraten, einen komplett neuen E-Learning-Kurs aufzusetzen.
Ist das der Fall, haben wir in den folgenden Artikeln weitere Tipps für eine reibungslose und effiziente Projektplanung und -durchführung:
- Weniger Stress durch Zeitmanagement-Tools
- Bedarfsanalyse – Wann ist E-Learning die richtige Lösung?
- Diese 7 Fragen sollten Sie sich stellen, wenn Sie sich für ein Lernformat entscheiden
Fazit
Wenn Sie das nächste Mal beauftragt werden, aus einer Präsenzschulung einen E-Learning-Kurs zu machen, müssen Sie nicht mehr aufs Geratewohl entscheiden, ob Sie renovieren oder neu bauen, sondern können sich mit unseren 2 Grundsatzfragen und den Kriterienlisten ein klares Bild davon verschaffen, wo Sie stehen und wie Sie am effektivsten vorgehen.
Wenn Sie immer noch unsicher sind, kann auch ein Blended-Learning-Ansatz die Lösung sein. Machen Sie den Teil der Schulung als E-Learning-Kurs nutzbar, der sich sinnvoll in dieses Format bringen lässt, und kombinieren Sie ihn mit anderen Lernformaten. Mehr Tipps und Informationen zum Blended Learning finden Sie selbstverständlich gleich hier in unserem Blog:
- Eine kurze Einführung in Blended Learning
- Wann ist Blended Learning die richtige Strategie?
- 4 frische Ideen für Ihre Blended-Learning-Strategie
- Sie überlegen eine Präsenzschulung zum E-Learning-Kurs zu machen? Achten Sie auf diese 5 Warnsignale
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